Wie die Zeit vergeht

 

 

„Wie die Zeit vergeht!“ seufzte meine Großmutter mit dem Grundton ehrlicher Hilflosigkeit. Damals war ich ein Kind im Volksschulalter und ich kann mich lebhaft daran erinnern, wie schwer es mir fiel, zu verstehen, WIE die Zeit vergeht. Die Einheiten und Abmessungen in Stunden und Sekunden waren mir zutiefst rätselhaft. Zeit war bis zu diesem „Zeitpunkt“ etwas ganz Natürliches. Sie verging einfach. Manchmal schnell, dann wieder ganz langsam, dann wieder ohne überhaupt wahrgenommen zu werden.

 

Zeit hat mich von jenem Augenblick an fasziniert, da sie als messbare Größe in mein Leben trat. Seitdem beschäftigt mich das Thema Zeit als eine Dimension des Lebens, der etwas Geheimnisvolles anhaftet. Ist es nicht rätselhaft, dass Zeit so unterschiedlich erlebt wird? Kann man wirklich verstehen, dass Zeit, so wie wir sie messen, gar nicht existiert? Dass die Linearität, die das Leben in aufeinanderfolgenden Einheiten verstreichen lässt, reine Schummelei ist und im kosmischen Ganzen absolut keine Bedeutung hat? Dass Zeit als Hilfskonstrukt eine Übereinkunft darstellt, die im universalen Geschehen keine Relevanz hat? Ist Zeit und das Erkennen ihrer wahren Natur vielleicht die Antwort auf die Frage nach dem wahren Selbst?

 

Zeit umschließt profane Anlässe ebenso wie spirituelle Grundfragen des Lebens. Sie zeigt auf innerpsychische Vorgänge und deren Erlebnisqualität im selben Maße wie sie zur Regulation des öffentlichen und sozialen Lebens dient. Auch kulturell scheint sie unterschiedlich ausgelegt und erfahren zu werden, man denke nur an die weit auseinanderfallenden Gewohnheiten bezüglich Pünktlichkeit. Zeit ist mittlerweile zum Luxus geworden, wobei einschränkend zu bedenken bleibt, für wen? Wie auch immer und in welchen Formen unsere gemessene Zeit konkret wird, sie bleibt letztlich reine „Fantasie“.

 

Wie sieht das Gegenkonzept aus? Wie kann man sich nichtlineare Zeit vorstellen? Alles ist. Zur gleichen Zeit? Bedeutet nichtlinear, dass alles, was in der Vergangenheit geschehen ist,  in der Gegenwart geschieht und in der Zukunft geschehen wird, als sozusagen anzapfbares Datenmeer verfügbar ist? Dieses Konzept würde sich im Übrigen mit den Erfahrungen in Träumen decken, in denen die Dimension der Zeit als etwas Amorphes erlebt wird und Zeitreisen a la Einstein nur relativ unrealistisch erscheinen.

 

Auch wenn Zeit noch so relativ ist, ist ihr jedes Lebewesen, jede Pflanze und jeder Stein unterworfen – entweder durch deren Sterblichkeit, zumindest jedoch durch deren Veränderbarkeit. Zeit hinterlässt niemanden und nichts ohne Spuren. Ein gut getrocknetes Stück Holz verbrennt in ein bis  zwei Stunden zu Asche, ein Stein wird in Tausenden von Jahren zu einem kleinen Kiesel gewaschen, eine Biene lebt einen Sommer lang. Im Vergleich dazu bringt es die Bienenkönigin, die sich ihre Fühler nicht mit Arbeit schmutzig macht, auf beachtliche drei bis vier Jahre. Beim Menschen gibt es auch eine große Schwankungsbreite, je nachdem, in welchem Kontinent und Land man geboren wurde. So wundert es nicht, dass man in Mitteleuropa mittlerweile mit ungefähr 70 Jahren Lebenserwartung rechnen kann, hingegen in Teilen Afrikas mit keinen 40. So hat man in Burkina Faso – neben der Tatsache, dass man die meiste Zeit mit der Beschaffung von Essbarem verbringt – grundsätzlich viel weniger Zeit zur Verfügung für Bildung, Familie, Kunst, Wissenschaft u. ä. als beispielsweise sagen wir in Dänemark. Aber auch in Dänemark und Burkina Faso gibt es eine Schwankungsbreite, denn auch in Europa gibt es Arme mit einem voraussichtlich kleinerem Lebenszeitfenster und umgekehrt, in den Ländern Afrikas gibt es auch einige Superreiche.

 

„Die Sanduhr beginnt zu rieseln beim ersten Schrei und beim letzten Korn ist es vorbei.“

 

Zeit ist gerecht. Sie ist, zumindest für unser Leben und unsere Daseinsform, endlich. Und das gilt ohne Ausnahme. Ein Grund mehr, warum uns Zeit so viel bedeutet. Sie ist im Ablaufen begriffen, hat für jeden von uns ein Datum – ein Ablaufdatum – parat.  Zeit ist kostbar und könnte man sich Zeit zukaufen, möchte ich die sein, die das Patent angemeldet hat.  In dieser Wahrheit der Endlichkeit liegen unendliche Facetten, wie die Lebenszeit erlebt wird. Abhängig vom Entwicklungsstand als Kind, als Jugendlicher, Erwachsener oder im Alter, abhängig von der Tätigkeit, die einen gefangen nimmt und einen – vorausgesetzt man beherrscht die Kunst der Hingabe an den Augenblick – in den sogenannten Flow versetzen kann, abhängig von der stupiden Ablenkung, die dazu dient, Zeit totzuschlagen vergeht diese jeweils anders. Das subjektive Zeitempfinden ist so dehnbar wie ein selbstgemachter Strudelteig.

 

Time and Soul – die Zeit hinter der Zeit

 

Es gibt Menschen, die den Schlüssel zum wahren Selbst entdeckt zu haben glauben und das Schloss zu diesem Schlüssel heißt Zeit. Die Priester dieser überkonfessionellen Glaubensgemeinde gehen davon aus, dass das wahre Selbst jenseits der Zeit zu entdecken ist und man die Endlichkeit des Daseins überwindet in der Erfahrung der Unendlichkeit der Zeit. Als Haltegriff hilft da die Konzentration auf das Hier und Jetzt. Das kommt einem bekannt vor, auch wenn man sich mit der Tiefgründigkeit dieses Kunstgriffs nicht im Geringsten beschäftigt hat. Die Prämisse, voll und ganz aufzugehen in der Gegenwart des Seins, taucht immer häufiger auf in Selbsthilfebüchern zu Zeitmanagement und Stressreduktion. Das, was sich Lebensratgeber zunutze machen, wartet mit einer viel tieferen Weisheit und Einsicht in das Rätsel des Lebens auf. Es gilt, das wahre Selbst zu entdecken, indem man hinter die Zeit blickt. Jenseits der Zeit gewinnt das wahre Selbst, das in der universalen Schöpfung als deren Teil jede Endlichkeit verliert, seine Unendlichkeit zurück.

 

Meiner Großmutter war die Tragweite ihres Seufzsers vermutlich nicht bewußt und ihre mehr als 90 Jahre sind ihr am Ende vielleicht wie ein Flügelschlag einer Libelle erschienen. Hin und wieder die Zeit anzuhalten, über scheinbar Belangloses bzw. als selbstverständlich Akzeptiertes nachzudenken: diesen Luxus sollten wir alle wiederentdecken, dieses Privileg sollten wir für uns alle einfordern. Denn die größten Geschenke liegen oft verborgen im kleinsten Schmuckkästchen.

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